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Roald Amundsen – Sein Leben: Teil 1: Kindheit, Jugend & Belgica-Expedition

Die Männer zitterten vor Kälte, wirkten ausgemergelt, und Frederick Cook, Schiffsarzt des antarktischen Expeditionsschiffes Belgica, sah an diesem Maimorgen des Jahres 1898 die Verzweiflung in ihren Augen. Die Antarktis hatte das Schiff gepackt, mit dem mächtigen Eis eingeschlossen, es gab kein vor, kein zurück, und es fehlte das Licht. Keiner von ihnen hatte geahnt, was es bedeuten würde, in die dunkle ewige Finsternis der Antarktis gehüllt zu sein, kein Sonnenaufgang, keine Wolken, kein Licht am Horizont, nur Eis, Kälte, überall Dunkelheit. Alle Männer wirkten erdrückt von der Finsternis, selbst der Kapitän war mürrisch. Keine guten Aussichten für die wohl tollkühnste – und wie Cook ergänzte, am schlechtesten organisierte? – Antarktisexpedition der jüngeren Geschichte. „Guck Dir den Jungen an,“ brummte einer der Männer und Cook blickte Richtung Steuerbord. Der erste Maat der Expedition stand an Bord und blickte in die Ferne. Sogar in dieser Dunkelheit, die nur von einigen wenigen Lichtquellen des Schiffes erhellt wurde, konnte Cook sehen, was der andere Mann meinte. Während alle anderen die Verzweiflung langsam packte, sich die Dunkelheit in ihr Herz schlich, wirkte Amundsen befreit. Als würde ein inneres Licht in ihm glühen, das ihn genau dahin geführt hatte, wohin er gehörte, hier, an das andere Ende der Welt. Während die anderen sich fühlten, als würden sie langsam in der Dunkelheit hier sterben, von ihr eingeholt werden – wirkte es bei ihm, als würde er erst aufwachen. Als würde er hierhergehören und nirgendwo anders auf dieser Welt. Cook wusste, dass der erste Maat ein besonderer Mensch war. Er ahnte: Von diesem jungen Mann namens Roald Amundsen würde man noch viel hören. Wenn sie diese Expedition überlebten.

Roald Amundsen

Für uns ist und bleibt er der berühmteste Polarheld aller Zeiten: Roald Amundsen, der so Unbeschreibliches erreicht hat in einem bewegten Leben: Amundsen war der norwegische Entdecker, der als erster den Südpol erreichte, als erster die Nordwestpassage durchquerte und als einer der ersten die Arktis auf dem Luftweg bereiste. Es wäre nicht richtig, Amundsen nur einen Blogbeitrag zu widmen. Dafür ist dieser Mensch zu faszinierend, sind seine Heldentaten zu groß. Ebenso empfinden wir eine Darstellung nur seiner Reisen als unvollständig. Aus unserer Sicht ist es wichtig, mehr über seine Kindheit, seine Jugend und seine frühen Erwachsenenjahre zu erfahren. Denn nur so können wir verstehen, was ihn antrieb, warum er der Abenteurer wurde, der er war, und auch der schwierige Mensch, der bei allen großen Heldentaten auch viele Schwächen hatte. Aber gerade das ist das Faszinierende an Roald Amundsen – er ist nicht nur ein Held gewesen, nicht nur ein genialer Entdecker, sondern auch ein Mensch voller Widersprüche.

In diesem ersten Blogbeitrag gehen wir nun auf die frühen Jahre von Amundsen ein, die Zeit vor der großen Südpolexpedition im Jahr 1910. Wir betrachten die Jahre ab seiner Geburt im Jahr 1872 und die frühen Expeditionsreisen. Dann im nächsten Blogbeitrag widmen wir uns ganz dem Wettrennen zum Südpol, das er am Ende gewann.

Sehnsucht

Vom Buch wendet sich sein Blick ab nach draußen und der Junge blickt aus dem Fenster in die Ferne. Der Blick wirkt entrückt, so, als ob da draußen etwas ist, was nur er sehen kann, ein Ziel in der Ferne, auf das sich sein Blick richtet. So merkt er es nicht, als seine Mutter den Raum betritt. Hanna kennt den entrückten Blick. Sie hat ihn schon bei anderen Männern gesehen, harten Männer aus ihrer Familie, die morgens am Fenster standen und in die Ferne blickten, als wäre dort etwas zu finden, was nur sie sehen können. Es sind Männer gewesen, die zur See fahren. Männer, die das Abenteuer suchten. Männer, die ihre Frau küssten, bevor sie an Bord eines großen Schiffes gingen – und nie wieder zurückkehrten. Männer, zu deren Art ihr Sohn nicht heranwachsen soll.

„Was liest Du, Roald?“

Überrascht blickt der Junge sich um, und der Blick in seinen Augen und die Röte seiner Wangen sagt ihr alles, was sie wissen muss. Sie tritt an den Tisch heran, nimmt das Buch in die Hand und liest den Umschlag. „Sir John Franklin“, sagt sie, und ihre Stimme weist genau die richtige Mischung aus Besorgnis und Traurigkeit auf, um die Röte auf dem Gesicht ihres Sohnes noch zu verstärken.
„Es ist nur ein Buch, Mama,“ sagt Roald entschuldigend und nimmt es ihr aus der Hand.

„Bei vielen begann es mit einem Buch,“ sagt sie, und streichelt Roald über das Haar. „Und dann kommen sie irgendwann nie mehr nach Hause und brechen ihren armen Müttern das Herz.“

„Das würde ich nie tun, Mutter,“ sagt Roald. „Ich bin doch…lieber zu Hause.“

Hanna lächelt. Sie weiß, dass ihr Sohn lügt, aber er macht es auf eine liebenswerte Art und Weise und daher kann sie ihm nicht böse sein.

„Das weiß ich doch, Roald. Versprich Deiner Mama, dass Du Arzt wirst, heiratest, viele Kinder bekommst und als Alter Mann glücklich im Bett stirbst.“

„Versprochen, Mama.“

Noch eine Lüge, das weiß Hanna im Tiefen ihres Herzens. Aber noch eine liebenswerte.

Geburt, Kindheit und Herkunft

Roald Amundsen, in voller Länge Roald Engelbregt Gravning Amundsen, wurde am 16. Juli 1872 in Borge bei Oslo, Norwegen, geboren. Das Seefahrerherz wurde dem Jungen in die Wiege gelegt, die Amundsens verdienten ihr Geld mit dem Seehandel. Als vierter Sohn der Familie wollte seine Mutter Hanna Sahlquvist jedoch nicht, dass der Sohn in die Fußstapfen seines Vaters Jens und anderer Familienmitglieder trat und ebenfalls zur See fahren und dort gegebenenfalls sterben würde. Der Vater starb, als Roald 14 Jahre alt war, und so pflegte der Junge vor allem eine enge Beziehung zu seiner Mutter. Ihr blieb natürlich nicht verborgen, dass ihr Sohn nach der See und dem Horizont trachtete, insbesondere bemerkte sie, dass Roald im Teenager-Alter von 15 Jahren eine große Begeisterung für die Werke von Sir John Franklin entwickelte. An dessen Erzählungen von seinen arktischen Expeditionen konnte sich der Junge nicht satt lesen. Später sollte Roald in seiner eigenen Autobiographie auch schreiben, dass ihn die Erzählungen, die Leidenschaft für die Entdeckung, die aus diesen Werken sprühte, sein ganzes Leben über geprägt hat. Die Macht der Worte ergriff damit auch einen Menschen, der später vor allem mit Taten zu überzeugen wusste.

Es war wohl in dieser Zeit, dass Roald seiner Mutter versprechen musste, nicht wie sein Vater und Vorfahren zu werden, nicht zur See zu fahren, sondern sein Leben an Land zu verbringen – wohl aus tiefer Liebe zu seiner Mutter versprach Roald ihr dies auch tatsächlich. So begann er tatsächlich ein Medizinstudium – mit wie viel Enthusiasmus, das können wir selbstverständlich nicht beurteilen. All zu viel wird es aber wohl nicht gewesen sein. Denn als Roald 21 Jahre alt wurde, verstarb seine geliebte Mutter Hanna. Fast augenblicklich beendete Roald sein Studium an der Universität und begann sein neues Leben: Auf den Spuren von Sir John Franklin, zur See, in der Tradition seiner Familie und doch weit über sie hinauswachsend in den Jahren, die folgen sollten.

Die Geburtsstunde eines Entdeckerhelden

Nun begann also ein neuer Abschnitt im Leben für Roald, und die ersten maßgeblichen Reisen, die sein späteres Leben mitprägen sollten, begannen ab dem Jahr 1897. Seine erste große Expeditionsseereise in die Antarktis begann. An Bord der Belgica begleitete er als erster Maat eine belgische Expeditionsreise.

Der junge Mann erledigte seine Arbeit an Bord stets zuverlässig und auf den Punkt. Roald Amundsen, erster Maat der Belgica, war bei der Besatzung durchaus beliebt. Zwar scherzten einige über ihn hinter seinem Rücken, denn es wirkt oft so, als wollte er den Erfolg der Expedition mehr als alle anderen Männer an Bord zusammen und in seiner Jugend wirkte er oft übereifrig. Aber sie hatten auch etwas verstanden: Anders als so manch anderer an Bord wusste Amundsen genau, was er tat.

„Der Junge wird es weit bringen“, sagte einer der Männer beim Abendessen. Amundsen war zu dieser Zeit noch an Deck und verrichtete sein Tageswerk.

*„Der treibt schneller unter einer Eisscholle als irgendeiner von uns,“ brummte ein alter Seefahrer und einige lachten.

„Ja, der Kerl hat zu viel Mut. Ich habe schon einige solcher Jungen gesehen. Die machen dann eine Dummheit und sterben ab. Ich sag immer: Mut ist gut, Vorsicht noch besser.“* „Hört, hört“, schallte es von den Männern.

Frederick Cook, Arzt der Expedition und wegen seines Faibles für Aufnahmen mit seiner Kamera seit Beginn der Expedition ein noch größerer Außenseiter als Roald Amundsen, rollte mit den Augen, aber lächelte sanft. Er mochte Roald Amundsen, sehr sogar, denn der Junge hatte nicht nur Mut, er hatte erkennbar auch die See in den Knochen. Das konnte man über einige andere der „alten Haudegen“, wie sie sich gerne selbst nannten, bei weitem nicht behaupten. Einige hatten sich in den letzten Tagen übergeben, dabei hatten sie noch nicht einmal die antarktischen Gewässer erreicht, und Cook machte sich auch Sorgen, dass der Kapitän die Dinge auf die leichte Schulter nahm. Vielleicht würde man eines Tages das Schiff finden, verlassen oder mit lauter steif gefrorenen Leichen. Aber zwei Dinge wusste Cook auch bei dem Gedanken und musste unwillkürlich lächeln: Er würde sein Leben darauf verwetten, dass seine Kamera überleben würde – und wenn einer der Männer an Bord überleben würde und sich durch das verdammte Eis nach Hause kämpfen würde, bei Gott, dann würde er sein Leben auf den jungen Roald Amundsen verwetten.

Die Belgica-Expedition

Ziel war die Küste der Westantarktis, die das Schiff zwischen 1897 und 1899 bereiste – mit dieser Expedition sollte das Zeitalter beginnen, das heute als das „Heldenzeitalter der Antarktisforschung“ bekannt ist. Ist es nicht ein schöner Gedanke, dass damals Roald als junger, unbekannter Mann bereits der erste Maat war, der hier die Antarktis und die polaren Regionen und Bedingungen kennen lernen sollte? Ebenfalls an Bord war Frederick Cook als Schiffsarzt, der vor allem dadurch berühmt werden sollte, dass er die Expedition für die Nachwelt in Fotos festhielt.

Die Reise war für Amundsen sehr wichtig. Er lernte vieles, was ihm auf späteren Expeditionen sehr helfen würde. Die erste wichtige Erkenntnis war: das Schiff muss genau geplant beladen werden, die Ladung muss perfekt austariert werden. Genau das war die Belgica nicht: voller Proviant, Material und Besatzung, die nicht aufeinander abgestimmt waren, drohte sie schon auf dem Weg in die Antarktis mehrfach zu kentern. Die zweite wichtige Erkenntnis schon bevor die Mannschaft in der Antarktis ankam: Eine erfahrene Crew, die gut zusammenarbeitet, ist das A und O. Denn nicht alle Crew-Mitglieder wiesen sich als tauglich für eine Expeditionsseereise, und einige Matrosen verließen bald das Schiff, bevor die Antarktis erreicht wurde.

Trotzdem erreichte die Belgica viel: Die Crew nahm intensive Forschungsaktivitäten vor, insbesondere wurde die Tiefe des Meeres fast stündlich gelotet, was eine große Hilfe für spätere Expeditionsseereisen war. Auf diese Expedition ist die gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis zurück zu führen, dass die Antarktiks ein eigenständiger Kontinent ist, überzogen von einem Eispanzer. Amundsens Entdeckerherz musste schließlich vor Freude und Aufregung gehüpft haben, als das Schiff kurz vor Beginn des antarktischen Winters im März 1898 den 71. Breitengrad Süd überschritt. Nie zuvor war, soweit bekannt, ein Mensch weiter südlich auf der Erde gewesen.

Amundsen lernte nun aber auch die unerbittliche Härte der Antarktis kennen. Am 3. März 1898 wurde die Belgica vom Packeis umschlossen. Der antarktische Winter brach an. Nun konnte die Crew nur hoffen, sich im antarktischen Sommer zwischen November und Januar wieder aus dem Packeis zu befreien.

Es ist für heutige Maßstäbe nur schwer nachvollziehbar, was Amundsen in dieser Zeit ertragen haben muss – und was er gleichzeitig lernte für die Zukunft. Vielleicht war es ein großes Glück für ihn, ausgerechnet an Bord dieses Schiffes zu sein, bei dem sich der erst spät hinzugestoßene Schiffsarzt Cook als ein Retter erwies. Denn die antarktische Nacht ist nicht nur bitterkalt – die ständige Dunkelheit schlägt auch unerbittlich auf das Gemüt. Die Männer wurden depressiv, hörten auf zu arbeiten oder sogar zu sprechen. Auch Amundsen muss damals miterlebt haben, wie Kameraden zusammenbrachen. Es war dann Cook zu verdanken, dass die Expedition nicht in einer Katastrophe endete. Er zwang die Männer, sich auszuziehen und nackt vor dem Schiffsoffen zu sitzen – um die Wärme zu genießen und helles Licht zu sehen. Tatsächlich gelang ihm so die Rettung der Lage – die Stimmung unter den Männern verbesserte sich nach kurzer Zeit.

Amundsens Stunde

„Ruhig jetzt,“ sagte Amundsen, und legte an.

*Cook und der einzige Matrose, der mutig genug war, sie zu begleiten, hielten den Atem an. Amundsen lag auf dem Eis, und Cook dachte, auch er musste vor Kälte zittern. Wie konnte der Junge bei diesem Wetter, in dieser Dunkelheit, etwas sehen?

Aber Amundsen konnte es. Er zielte ruhig mit dem Gewehr, nichts schien ihn zu erschüttern. Er wirkte ungerührt ob der Situation.* Und der Schuss saß. Wie jeder der letzten. Wie immer traf Amundsen sein Ziel.

Auch Amundsens Stunde schlug jetzt: Während der Kapitän der Mission es ablehnte, Robben- und Pinguinfleisch zu verzehren, bestand Cook für den Rest der Mannschaft darauf. Nur einer erwies sich nun als fähig, diese Tiere zu jagen: Roald Amundsen. Gemeinsam mit Cook nahm er das Zepter in die Hand, leitete die Jagden und half so mit, eine Mangelernährung zu verhindern. In dieser Zeit muss sich das Selbstbewusstsein von Amundsen stark entwickelt haben – und auch seine Erkenntnis, dass er in der Lage ist, Männer auch durch härteste Bedingungen zu führen.

Der antarktische Sommer brachte zunächst keine Besserung, das Schiff kam nicht frei. Im Februar 1899 stellte die Crew dann schließlich fest, dass sie nahe dem offenen Meer war – nun gingen sie von Bord, um eine 600m Fahrrinne in das Eis zu schlagen. Auch hier war Amundsen wieder wichtig, denn er entwickelte mit einem anderen Crewmitglied eine Methode, das Eis zu sprengen – durch Explosionsmaterial in Keksdosen. Es war eine harte Zeit, denn einmal machte ein Sturm die fast geöffnete Fahrrinne wieder zunichte – bis dann Mitte März ein anderer sie öffnete und das Schiff freisetzte. Das war Amundsens erste große Expeditionsseereise – ein unvergesslicher Abenteuer – in der er als Anführer reifte. Nun musste die Leidenschaft des Entdeckens und des Überstehens solcher harten Situationen endgültig den Mann gepackt haben.

Mehr über Amundsen erfahren Sie in Teil 2 unserer Reihe – dann geht es um seine erste große Heldentat als Anführer: Die Durchquerung der Nordwestpassage und den spannenden Begegnungen mit den Inuit.

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